Ein Stück Stadt- und Medizingeschichte

Zum Jubiläum der Universitätsmedizin sprachen wir mit Prof. Dr. Jürgen Graf, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender der Universitätsmedizin, und mit Prof. Dr. Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Universität. Im Interview diskutieren beide die Bedeutung der Universitätsmedizin für die Stadt Frankfurt, den neu eröffneten Gesundheitscampus und das Zusammenspiel von Stiftungsförderung, Versorgungs- und Forschungsleistung.

Die Goethe-Universität mit ihrer Universitätsmedizin Frankfurt feiert Jubiläum: Welche Bedeutung hatte die medizinische Fakultät der Goethe-Universität Frankfurt bei der Gründung? Welche Bedeutung hat sie heute für die Stadt Frankfurt?

Prof. Dr. Jürgen Graf: Im 19. Jahrhundert war Frankfurt eine florierende Handelsstadt. Der damalige Oberbürgermeister Franz Adickes hatte die Idee einer Handels- und Medizinhochschule, um das Profil der Stadt für die Zukunft weiterzuentwickeln. Medizin auch deshalb, weil der Handel und die Messen  schon damals Prostitution und sexuell übertragbare Krankheiten mit sich brachten. So wurden für das bereits bestehende Städtische Krankenhaus Sachsenhausen wichtige Persönlichkeiten angeworben – z.B. der spätere Nobelpreisträger Paul Ehrlich. Es entstanden Institute wie das Georg-Speyer-Haus und durch Förderung der Ännie-Stiftung die Kinderklinik. Die Universitätsmedizin wuchs also schon vor ihrer offiziellen Gründung 1914 organisch. Es folgten Jahrzehnte des Wachstums und der medizinischen Exzellenz in den unterschiedlichsten Disziplinen – von der Kardiologie und Onkologie über die Infektionsmedizin bis hin zu aktuellen Themenfeldern wie der Digitalisierung und Robotik. 

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Ich stimme Herrn Graf zu, die Medizin hatte definitiv eine bedeutende Rolle für die und bei der Gründung der Goethe-Universität. Sie war eine der vier Gründungsfakultäten und verkörpert bis heute den Gedanken der Stiftungsuniversität: Wir wurden von den Frankfurter Bürgerinnen und Bürgern gegründet, um durch Grundlagenforschung und deren Anwendung Lösungen für aktuelle Herausforderungen verantwortungsvoll zu erarbeiten. Die versorgende, forschende und ausbildende Universitätsmedizin zieht Menschen an, die sich hier gut aufgehoben fühlen, auf beiden Seiten des Bettes oder der Laborbank. Ihrer Stärke und Innovationsfähigkeit erwachsen auch durch die enge Zusammenarbeit mit unterschiedlichsten Fachbereichen der Goethe-Universität, denn in vielen Zusammenhängen steht der Mensch und seine Gesundheit im Fokus unserer Forschung. Denn auch das gehört seit der Gründung zu unserer DNA: der Blick über den Tellerrand, die inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit zum Wohle der Gesellschaft. 

Prof. Dr. Jürgen Graf: Heute müssen wir diese außergewöhnliche Expertise hier in Frankfurt halten – in der Medizin und in allen anderen Fachbereichen. Wir wollen den medizinischen Fortschritt weiter befördern, für die Bürgerinnen und Bürger der Stadt und darüber hinaus. Wir befassen uns auch mit Krisenszenarien und entwickeln Handlungsstrategien auch für Energie- und Stromausfall, Umwelt- und Klimakrisen, Cyberangriffe und ähnliches. Denn wir alle haben es in der Pandemie gesehen: Es braucht kontinuierlich eine akut- und notfallmedizinische Versorgung der Bevölkerung – und hierfür eine gute Vorbereitung. 

Damals wie heute sind Goethe-Universität und der medizinische Fachbereich auf Stiftungen angewiesen, neben den Geldern aus öffentlicher Hand. Was leisteten Stiftungen bei der Gründung?

Prof. Dr. Jürgen Graf: Ohne Stiftungen gäbe es die Universitätsmedizin Frankfurt nicht. So waren etwa die Senckenbergische Stiftung, die Edinger Stiftung und die Theodor-Stern-Stiftung unabdingbar. Heute kommen unter anderem die Reiss-Stiftung, Schwiete-Stiftung und die Freunde und Förderer der Goethe-Universität – neben vielen anderen Stiftern, Spendern und Gönnern – hinzu. Viele Förderer sind uns seit Jahrzehnten treu und wir sind sehr dankbar für deren stetige Unterstützung. Mit ihrer Hilfe können wir neue Teilbereiche entwickeln und Wissenschaft fördern. Ich will betonen: Hinter den Freunden und Förderern stehen viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt Frankfurt. In der Corona-Zeit wurden in 20 Monaten mittels des Goethe-Corona-Fonds ca. 7,5 Millionen Euro gespendet, und das nicht nur für die medizinische Forschung – das zeugt von bedeutendem Interesse und Vertrauen.

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Das von Herrn Graf angeführte Beispiel zeigt auch das enorme Engagement der Frankfurterinnen und Frankfurter für Wissenschaft und Patientenversorgung. Aber nicht zu vergessen sind die national agierenden Stiftungen, wie die Else-Kröner-Fresenius-Stiftung und die Volkswagenstiftung – um nur zwei zu nennen. Auch deren Förderung ermöglicht uns, herausragende Leute nach Frankfurt zu holen oder Wissen zu vertiefen und damit dem Fortschritt Wege zu bahnen. Mit Stiftungsunterstützung stellen wir uns für die Zukunft auf, etwa in der Medizinautomatisierung. Das macht uns als Goethe-Universität und Stadt attraktiv gerade für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im frühen Stadium der Karriere. Bürgerliches und stifterisches Engagement bleiben unverzichtbar. 

Die LOEWE-Initiative der Landesregierung stärkt die Forschung auch in der Medizin. Was ist daran besonders?

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Die Universitätsfinanzierung steht auf mehreren Säulen: Die Sockelfinanzierung bietet Mittel für Studium und Lehre, Grundstrukturen für Forschung und Transfer, vor allem aber für das Personal auf allen Ebenen für diese Aufgaben. Mit der LOEWE-Förderung setzt das Land zusätzlich Impulse zur Ausbildung von Schwerpunkten, indem sie Exzellenz und insbesondere junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fördert. So können wir gezielt Entwicklungen in Forschung und Gesellschaft aufgreifen und umsetzen. Aber ich möchte betonen, dass die Unterstützung des Landes Hessens auch über das LOEWE-Programm hinaus geht. Es fördert etwa den Aufbau von Kompetenzzentren, die Grundlagenforschung und klinischen Betrieb verbinden. Das treibt die strategische Schwerpunktbildung weiter voran – in Universitätsmedizin und Goethe-Universität. 

Prof. Dr. Jürgen Graf: Da kann ich nur zustimmen: Die LOEWE-Initiative in Hessen ist einzigartig. Sie will Exzellenz fördern und gibt Anschubfinanzierungen für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie ermöglicht die Umsetzung außergewöhnlicher Ideen und fördert Spitzenprofessuren. So konnten wir bedeutende Persönlichkeiten gewinnen und wichtige Zentren aufbauen: beispielsweise das LOEWE-Zentrum für Zell- und Gentherapie und das Frankfurt Cancer Institute. Uns finanziert in wesentlichen Teilen von Lehre und Forschung – für die Infrastruktur und das Personal – die öffentliche Hand. Neben dem Land Hessen mit wesentlichen Teilen der Grundfinanzierung sind dies vor allem wettbewerblich eingeworbene Mittel von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) oder auch die EU. Diese Mittel sind sehr wertbringend eingesetzt: Im Fachbereich Medizin kommt auf jeden Euro aus der Grundfinanzierung des Landes ein Euro aus eingeworbenen Drittmitteln. Das ist eine in Deutschland selten hohe Quote.

Zum medizinischen Fortschritt gehören auch Kooperationspartner und gemeinsame Forschung. Wie arbeiten Sie mit Partnern zusammen?

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Kooperationen werden immer wichtiger: für Ausbildung, Lehre, Forschung und Versorgung. Sei es durch Bündelung komplementärer Kompetenzen oder die gemeinsame Nutzung von Infrastrukturen. Das wird immer wichtiger für Forschung und Lehre. In der medizinischen Forschung arbeiten wir mit starken Partnern zusammen: den Max-Planck-Gesellschaften, dem Deutschen Krebsforschungszentrum, mit Fraunhofer- und Leibniz-Instituten, mit anderen Universitäten, insbesondere in der Allianz der Rhein-Main-Universitäten (RMU). Das sichert uns den Zugang zu Informationen. Denn in der Forschung sind Daten die Grundlage der Medizin von morgen. Wir denken kooperativ. Austausch und gemeinschaftlicher Fortschritt übersetzen Wissen in die Praxis – für die Patientinnen und Patienten.

Prof. Dr. Jürgen Graf: Genau. In der Universitätsmedizin fragen wir uns, wie wir unsere Versorgungsleistung und den gesellschaftlichen Wandel in die Forschung und Lehre einbringen und diese dadurch weiterentwickeln können. Hier helfen Daten. Patientinnen und Patienten sind ausschließlich bei uns. Jeder Fall generiert mit seiner persönlichen medizinischen Geschichte eine Fülle von Daten. Dank unserer vollumfänglich elektronischen Datenverarbeitung und der Medizininformatikinitiative sowie dem von uns gegründeten University Center of Digital Healthcare (UCDHC) können wir diese Daten anonymisieren bzw. pseudonymisieren, um damit wissenschaftlich zu arbeiten und sie auch mit Versorgungspartnern zu teilen. 

Zeichnen sich besondere Entwicklungen bei gemeinsamen Forschungsanstrengungen ab?

Prof. Dr. Jürgen Graf: Unsere Aufgabe der Zukunft wird sein, Menschen häufiger ambulant und heimatnah zu versorgen. Das schaffen wir über Partnernetzwerke. Denn nicht alle Menschen wohnen um die Ecke einer Universitätsklinik. Zudem ist die Medizin der Zukunft personalisiert. Therapien und Medikamente werden auf das Individuum zugeschnitten. Wir müssen auch anhand individualisierter Therapeutika verallgemeinerbare Daten gewinnen und analysieren. Beide Entwicklungen werfen viele Fragen auf, die wir nicht allein in einem Krankenhaus beantworten können. Wir müssen mit anderen Fachbereichen und Expertinnen und Experten Lösungen erarbeiten. 

Die Goethe-Universität ist Stiftung des öffentlichen Rechts. Wie kann das Land Rahmenbedingungen schaffen, um Ihre Aufgabenerfüllung zukünftig zu unterstützen?

Prof. Dr. Jürgen Graf: Zunächst gilt es, gemeinsam Ziele festzulegen. Diese ordnen wir in den größeren politischen Kontext ein. In der Versorgung halten wir uns an Leitlinien, Handlungsanweisungen und -empfehlungen. Besonders an den Universitätskliniken dürfen wir die verbleibenden Freiheiten aber nicht weiter einschränken. Denn in diesen Freiräumen entstehen wissenschaftliche Höchstleistungen. Wir wollen den größten Mehrwert für die Gesellschaft schaffen – Gesundheit. Und das schaffen wir nur im intensiven Dialog mit dem Land. Wie können wir die Besten der Besten gewinnen? Wie können wir sie halten? Dafür brauchen wir nicht nur finanzielle Mittel, sondern Infrastruktur. Mit der Politik müssen wir unsere Positionen strukturell stärken.

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Korrekt. Und wir müssen in der Politik ein Bewusstsein schaffen, welche Rahmenbedingungen wir in Zukunft als forschende Universitätsmedizin benötigen. Wir brauchen Flexibilität und Strukturen. Die erreichen wir – wie Herr Graf richtig sagt – nicht nur über finanzielle Mittel. Wir müssen bestehende Ressourcen optimieren. So können Ärztin und Arzt nicht gleichzeitig forschen und Patientinnen und Patienten versorgen, wenn zwischen den Einrichtungen mehrere Kilometer liegen. Das Forschungslabor muss sinnbildlich neben dem Patientenbett sein. Oder: Der Datenschutz muss derart ausgestaltet sein, dass wir personalisierte Medizin betreiben können. Diese und viele weitere Gedanken müssen auch in der Politik Berücksichtigung finden.

Wir haben schon über die personalisierte Medizin gesprochen. Welche Potenziale sehen Sie noch für die Universitätsmedizin hier in Frankfurt?

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Ohne Herrn Graf etwas vorwegnehmen zu wollen: Wir haben in Frankfurt herausragende medizinische Fachgebiete, die heute und in Zukunft stark sein werden. Dazu zählen das Cardiopulmonary Institute für Herz- und Lungenforschung, die Onkologie, die Pharmakologie, die Entzündungs- und Pandemieforschung sowie die Neurowissenschaften und Psychologie. In der Zukunft müssen wir uns davon lösen, dass sich Kliniken nur mit der Heilung von Krankheiten befassen. Es geht um die Frage, wie wir Gesundheit langfristig erhalten können? Etwa müssen wir berücksichtigen, dass sich Arbeitswelt, Klima und Umwelt verändern. Wir müssen verstehen, wie das die menschliche Gesundheit beeinflusst und wie wir dem begegnen können. Das rückt den Fokus – neben der Versorgung – auch auf die Prävention und Nachsorge.

Prof. Dr. Jürgen Graf: Herz-Kreislauf-, Krebs- und Infektionskrankheiten werden uns weiterhin intensiv beschäftigen. Auch nehmen neurodegenerative Erkrankungen zu. Wir stellen die Patientinnen und Patienten in den Mittelpunkt. Diagnostik und Therapie werden immer komplexer, die Versorgungszeit vor Ort – in der Universitätsklinik – immer kürzer. Die ambulante und heimatnahe Versorgung wird wichtiger, ebenso die umfängliche Prävention und Nachsorge. Noch nicht angesprochen haben wir bisher die Demographie: Wie können wir Menschen versorgen, die immer älter werden? Wir müssen verstärkt die sozialen, gesellschaftlichen und persönlichen Auswirkungen in den Blick nehmen.

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Richtig. Wie können wir hier andere Fächer wie Sportwissenschaften, Soziologie, Erziehungs- und Bildungswissenschaften integrieren? Nehmen wir die Digitalisierung der Arbeitswelt: Welche Folgen hat sie für unsere Gesundheit, positive wie negative? Wie können wir negativen Auswirkungen begegnen, lange bevor sie gesundheitliche Schäden verursachen? Wie den Arbeitsplatz gestalten, wie unsere Resilienz stärken? Hier wird deutlich, wie Medizin und andere Forschungsbereiche ineinandergreifen. Das kann so nur die Universitätsmedizin leisten an einer breit aufgestellten, forschungsstarken Universität wie der unseren. Und das wollen wir weiter stärken, ganz im Sinne der Gründung der Goethe-Universität: aus der Stadtgesellschaft für die Stadtgesellschaft.

Integration ist also das Stichwort. Sie ist auch ein Ziel des neuen Gesundheitscampus Universitätsmedizin Frankfurt Rhein-Main. Welche Absichten verfolgen Sie damit noch?

Prof. Dr. Jürgen Graf: Mit unserem Gesundheitscampus begegnen wir verschiedenen Herausforderungen unserer Zeit. Zum einen bekämpfen wir den Fachkräftemangel. Zum anderen arbeiten wir immer häufiger interdisziplinär und interprofessionell. Wir sehen eine stärkere Spezialisierung und Akademisierung in bestimmten Berufsgruppen. Lehre müssen wir gemeinsam denken. Der Gesundheitscampus ist unsere Investition in die Aus-, Fort- und Weiterbildung unserer Fachkräfte. Wir haben eine Struktur geschaffen, die die Patientenversorgung und den medizinischen Fortschritt anhand der neuesten Kenntnisse und Standards in Bezug auf die Bedarfe der Zukunft sicherstellt.

Prof. Dr. Enrico Schleiff: Zudem ist das klinische Personal ein Knotenpunkt zur Gesellschaft. Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte genießen ein großes Vertrauen. Damit haben sie die Möglichkeit, die komplexen Sachverhalte aus Forschung und Gesellschaft zu übersetzen. Diese Verantwortung und die dafür notwendigen Kompetenzen wollen wir schon in der Ausbildung berücksichtigen.

Prof. Dr. Jürgen Graf: Darüber hinaus spiegelt der Campus die Universitätsmedizin – und Herr Schleiff, wenn ich das in Ihrem Namen sagen darf – die Goethe-Universität wider. Wir vereinen Fachkräfte aus 130 Nationen. Jedes Individuum ist wichtig für uns. Denn wir alle verfolgen das eine Ziel, Menschen zu helfen. Das vereint uns unabhängig von Kultur, Muttersprache, Hautfarbe und sexueller Orientierung. Wir denken voraus, um die Gesellschaft von morgen versorgen zu können und die Versorgung unserer Patientinnen und Patienten voranzubringen – wie schon vor 110 Jahren.

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