- News
- Patientenversorgung
Der Weltkindertag am 20. September macht jedes Jahr auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aufmerksam. Dieses Jahr fällt besonders eine kritische Entwicklung auf, die sich nicht nur auf Deutschland beschränkt: Ein aktueller Report in Lancet Psychiatry zu “Youth Mental Health“ kommt zu dem Schluss, dass sich die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen weltweit verschlechtert. Woran liegt das und wie kann man hier gegensteuern? Darüber haben wir mit Professorin Dr. Christine M. Freitag gesprochen. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Universitätsmedizin Frankfurt.
Frau Professorin Dr. Freitag, wie steht es um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?
Aus vielen Ländern wird eine Zunahme an neu-diagnostizierten Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen berichtet. Einschränkend muss hierzu erwähnt werden, dass belastbare epidemiologische Zahlen aus Deutschland leider nicht vorliegen. Allerdings sind Daten aus Dänemark eingeflossen, und wir können annehmen, dass die dort beobachteten Trends mit Deutschland in etwa vergleichbar sind.
Die Grundlage dieser besorgniserregenden Entwicklung ist jedoch schon lange bekannt. Die Mehrheit aller psychischen Erkrankungen beginnt im Kindes- und Jugendalter. Oft bleiben allerdings häufige Erkrankungen wie Angsterkrankungen oder Neuroentwicklungsstörungen in der Kindheit leider unerkannt. Bei fehlender Diagnose und evidenzbasierter Behandlung können sich diese Erkrankungen dann zu chronischen psychischen Leiden im Jugend- oder Erwachsenenalter weiterentwickeln, die schwer zu behandeln sind. Bisher berücksichtigt die Gesundheitsversorgung diesen Umstand nur unzureichend. Unsere Versorgung ist bisher auf (späte) Intervention und nicht auf indizierte Prävention ausgelegt.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler schreiben in dem zuvor angesprochenen Bericht, man sei in „eine gefährliche Phase“ eingetreten, jetzt sei womöglich „unsere letzte Chance, aktiv zu werden“. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Die Zahlen sind eindeutig und ich teile die Bewertung, insbesondere, dass wir uns mit den richtigen Methoden und Ansätzen dem Thema widmen müssen, um hier eine Veränderung zu bewirken. Der wissenschaftliche Bericht nutzt als Grundlage diverse, methodologisch gut durchgeführte epidemiologische Studien aus der ganzen Welt und nicht nur aus sogenannten „westlichen Industrienationen“. Eine der wichtigsten Quellen dabei ist die “Global Burden of Diseases“ Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die Anfang des Jahres zu einer ähnlichen Einschätzung kam. Dort ist festzustellen, dass psychische Erkrankungen bei Kindern seit etwa 15 Jahren ansteigen. Dies lässt sich nicht durch eine häufigere Diagnostik oder eine bessere Aufklärung zu den Krankheitsbildern erklären. Wahrscheinlich geht es Kindern und Jugendlichen heute psychisch bedeutsam schlechter als ihren Altersgenossen vor 15 Jahren.
Wo liegen die Ursachen dieser Entwicklung?
Kausale Ursachen können in diesen großen, epidemiologischen Studien nicht untersucht werden. Der Lancet-Psychiatry Bericht diskutiert als Ursache vor allem „globale Megatrends“ seit den 2010er Jahren, wie generationale Ungerechtigkeit oder unregulierte soziale Medien, die dann durch die Coronapandemie verstärkt wurden. Das ist jedoch zunächst nur eine Expertenmeinung. Aspekte wie die steigende Umweltbelastung mit pränatal schädigenden Substanzen (z.B. Feinstaubbelastung) werden leider nicht genannt, obwohl sie ebenfalls epidemiologisch relevant für die neuronale Entwicklung sind. Der Report bemüht sich zudem, die Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen. Kinder aus aller Welt beschreiben, dass ihnen zahlreiche Entwicklungen, wie der Klimawandel oder auch die Pandemie, Angst machen und sie belastet. Außerdem wissen wir aus kleineren Untersuchungen um den Einfluss sozialer Medien auf die mentale Gesundheit.
Was bräuchte es, um da gegenzusteuern?
Grundsätzlich brauchen Kinder und Jugendliche ein stabiles persönliches Umfeld, eine gute Bildung, verbindliche faire und soziale Regeln sowie einen Schutz vor Drogen und nicht-substanzgebundenen Abhängigkeiten. Zudem ist eine gute Schwangerschaftsvorsorge mit Vermeidung von Alkohol, Drogen und anderen schädlichen Substanzen sowie eine reduzierte Umweltbelastung durch Feinstaub oder Plastikpartikel sehr wichtig. In Europa haben wir diesbezüglich verhältnismäßig gute Bedingungen, aber gerade in Deutschland müsste die evidenzbasierte Förderung im Kindergarten und in der Grundschule viel professioneller gestaltet werden. Neben einem guten sozialen Klima und klaren, fairen Regeln für alle ist eine indizierte Prävention bei Risikokindern wichtig. Diese Früherkennung ist ein weitgehend unerforschtes Feld, auf das wir unsere Anstrengungen richten sollten.
Woran merke ich, dass Kinder in meinem Umfeld oder vielleicht sogar meine eigenen Kinder psychische Probleme haben?
Grundsätzlich zeigen sich psychische Probleme häufig in der sozialen Interaktion, zum Beispiel durch fehlende Kontaktaufnahme, sozialen Rückzug oder auch störendes Verhalten. Zudem sollte auch auf Veränderungen reagiert werden. Hat ein Kind Lust an Beschäftigungen verloren, die ihm früher Freude bereiteten? Kinder reagieren seltener mit tiefer Traurigkeit als Erwachsene, sondern sind häufiger gereizt oder zeigen Stimmungsschwankungen im Verlauf eines Tages. Ein anderer wichtiger Indikator ist der soziale Rückzug. Kapselt sich das Kind ab? Das können auch immer vorrübergehende Krisen sein oder Phasen der Entwicklung. Wenn diese Zustände aber über Wochen anhalten, sollten Eltern aktiv werden. Dann sollte ärztlicher Rat, also eine Ärztin oder ein Arzt für Kinder- und Jugendmedizin oder Kinder- und Jugendpsychiatrie und
-psychotherapie, eine psychotherapeutische Beratung und unter Umständen auch eine Entwicklungsdiagnostik über eine entsprechende Frühfördereinrichtung in Betracht gezogen werden.
Was kann ich selbst leisten, wenn ich Veränderungen bei meinem Kind wahrnehme?
Erst einmal ist es wichtig, die Bedürfnisse des eigenen Kindes ernst zu nehmen. Emotionen sind niemals falsch. Es ist wichtig, über die Emotionen zu reden und ihnen Raum zu geben; vielleicht ohne konkrete Lösungsvorschläge, sondern die Lage einfach anerkennen und dabei die Veränderbarkeit und Dynamik betonen. Morgen kommt vielleicht ein besserer Tag. Viele Emotionen entstehen aufgrund neuer Situationen, die ein Kind bewältigen muss und die in der Regel auch bewältigbar sind. Heute ist die Vorstellung verbreitet, dass Kinder und Jugendliche nicht belastbar seien, die sogenannte ‚Schneeflocken-Hypothese‘. Manchmal reagieren Eltern dann so, dass sie ihr Kind vor herausfordernden Situationen abschirmen. Dies ist allerdings tatsächlich die falsche Reaktion. Es ist Aufgabe von allen Erwachsenen – Eltern, Erzieherinnen und Lehrern –, dass sie Kinder und Jugendliche fördern und anleiten, mit den Anforderungen der Umwelt konstruktiv und lösungsorientiert umzugehen. Wenn Eltern hier unsicher sind, sollten sie, wie bereits erwähnt, eine entsprechende Beratung über Erziehungsberatungsstellen oder ärztliche und psychotherapeutische Ansprech-partnerinnen und -partner in Anspruch nehmen.
Sie haben gesagt, dass eine psychische Erkrankung als Kind das Risiko für eine schwieriger zu behandelnde psychische Erkrankung als Erwachsener erhöht. Welche Ansätze gibt es, hier früher entgegenzuwirken?
Das ist eine zentrale Fragestellung der aktuellen Forschung und genau das untersuchen wir aktuell im Projekt LOCUS-MENTAL. Ziel des Projektes ist es, das Risiko für psychische Erkrankungen vorherzusagen. Kinder mit einem erhöhten Risiko könnten dann gezielt gefördert werden, um eine Ersterkrankung zu verhindern. LOCUS-MENTAL wird von Dr. Nico Bast geleitet und im Emmy-Noether Programm mit zwei Millionen Euro gefördert.
Wir bedanken uns bei Professorin Dr. Christine M. Freitag für das Gespräch.