Die Therapie von Yvonne Burges
Nicht nur Menschen im höheren Lebensalter sind von Hörstörungen betroffen. Yvonne Burges hatte schon als junge Frau damit zu kämpfen. Seit sie zwei Cochlea-Implantate hat, ist sie ein neuer Mensch.
Aus dem Raum für audiologische Untersuchungen dringen merkwürdige Laute: Zzzzzz, dann schschsch und schließlich guguhohohuhu. Prof. Dr.-Ing. Uwe Baumann, Leiter der Audiologie der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde an der Universitätsmedizin Frankfurt, testet bei einer Patientin mit Hörimplantaten verschiedene Sprachlaute. Sie soll auf einer vor ihr liegenden Skala zeigen, wie sie die Lautstärke empfindet. Bei allen Lauten zeigt die Patientin auf den mittleren Bereich, in dem ein Smiley verschmitzt grinst. Prof. Dr.-Ing. Baumann und die Patientin sind zufrieden. Alles im grünen Bereich mit dem Hörvermögen der 58-Jährigen.
Das war lange Zeit nicht so. Mit Anfang 20 bemerkte Yvonne Burges erste Höreinschränkungen, die sich kontinuierlich verschlechterten. Wenige Jahre später war sie fast taub. „Offensichtlich liegt die Veranlagung zur fortschreitenden Schwerhörigkeit in meiner Familie“, erklärt sie. „Meine Schwester ist ebenfalls hörgeschädigt. Bei ihr kann der Hörverlust mit einem Hörgerät ausgeglichen werden. Bei mir war das irgendwann nicht mehr der Fall.“
Vor knapp acht Jahren unterzog sich die Wiesbadenerin deshalb in der HNO-Klinik an der Universitätsmedizin Frankfurt einer Operation, bei der die Ohren jeweils mit einem Cochlea-Implantat (CI) ausgestattet wurden. „Das Cl ist eine Neuroprothese, bei der eine in das Innenohr, die Cochlea, eingeführte Mehrkanal-Elektrode mit elektrischen Pulsmustern direkt den Hörnerv stimuliert. Der chirurgische Eingriff wird minimalinvasiv durchgeführt. Anschließend werden die Patientinnen und Patienten in einer lebenslangen Nachsorge begleitet“, erklärt Prof. Dr. Timo Stöver, Direktor der Klinik für Hals-, Nasen-, Ohrenheilkunde an der Universitätsmedizin Frankfurt. „Die Methode wird seit mehr als 30 Jahren angewandt und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt. Sie wird immer dann eingesetzt, wenn eine Hörstörung so weit fortgeschritten ist, dass bei bestmöglicher Anpassung von hochverstärkenden Hörgeräten keine ausreichende Wiederherstellung der Fähigkeit zur akustischen Kommunikation gelingt. Das traf auch auf Frau Burges zu.“
Warum Patientinnen und Patienten bereits in jungen Jahren eine progressive Schwerhörigkeit erfahren, ist medizinisch oft unklar. „Eine voranschreitende Hörminderung würde man eigentlich erst im höheren Lebensalter erwarten“, erläutert Prof. Dr Stöver. „Der Verlauf bei Frau Burges ist untypisch, aber nicht ungewöhnlich. Wir sehen auch junge Leute und Menschen mittleren Alters, die aufgrund unbekannter Ursachen eine voranschreitende Hörminderung erleiden.“ Yvonne Burges erwischte es vor mehr als 30 Jahren eiskalt. „Mit Anfang 20 ist man in einer Aufbruchphase, möchte Menschen kennenlernen und sich ein eigenes Leben aufbauen, aber durch meine Hörstörung wurde ich erst einmal ausgebremst“, erzählt Yvonne Burges. Sie ist froh, dass Eltern, Schwester, Freunde und später ihr Mann und ihre Tochter sie stets unterstützt haben.
Viele Normalhörende können sich kaum vorstellen, was ein vermindertes Hörvermögen im Alltag und im beruflichen Umfeld bedeutet. Probleme, den Telefonpartner zu verstehen, keine Geräusche im Straßenverkehr wahrzunehmen, kein Vogelgezwitscher, Blätterrascheln und erst recht keine Musik zu hören, sind nur einige der Situationen, mit denen Betroffene klarkommen müssen. Die Frustrationsschwelle liegt oft höher, wenn Betroffene einmal hörend waren. In ihrem Job im Einzelhandel und mit Kundenkontakt ist Yvonne Burges häufig an ihre Grenzen gestoßen. „Als Person mit Hörminderung hat man ein Problem, wenn Menschen einem unbeabsichtigt den Rücken zudrehen und das Lippenlesen unmöglich machen“, sagt Yvonne Burges. „Oder wenn man von einem Satz mit zehn Wörtern nur fünf versteht. Dann muss man sich den Rest mühsam zusammenreimen und hoffen, dass man den Sinn richtig verstanden hat.“ Nicht wenige Menschen mit Hörstörungen ziehen sich nach und nach aus dem gesellschaftlichen Leben zurück, was zu Jobverlust, Störungen im familiären Umfeld und zu Erkrankungen wie Depressionen führen kann.
Aber auch mit Cochlea-Implantat läuft nicht alles sofort wie von selbst. Ein kontinuierliches Training des Sinnesorgans ist essenziell. „Beim Klavierspielen ist es genauso“, sagt Prof. Dr.-Ing. Baumann. „Um ein gutes Niveau zu halten, muss man üben und sich mit dem Instrument beschäftigen. In diesem Fall sind die Ohren das Instrument. Sie sollten immer wieder schwierigen Hörsituationen ausgesetzt werden, damit CI-Trägerinnen und -Träger sicherer werden und herausfordernde Situationen ohne Angst erleben können.“ Keine leichte Aufgabe, wenn man bedenkt, dass in einem Cochlea-Implantat nur zwölf bis 22 Elektrodenkontakte vorhanden sind, während im Ohr eines normal Hörenden 3000 kleine Härchen für die Auflösung des Schalls sorgen. Diese Innenohrhaarsinneszellen sind bei einer Hörstörung häufig defekt. Das Implantat bildet eine Brücke zum Gehirn, die der Träger oder die Trägerin in Kombination mit einem fein justierten Implantat entsprechend ausbauen kann. „Das Hören passiert eben nicht nur mit den Ohren, sondern insbesondere im Kopf“, erklärt Prof. Dr.-Ing. Baumann und verweist auf Prof. Dr. Rainer Klinke, langjähriger Direktor des Zentrums der Physiologie der Goethe-Universität: „Professor Klinke war in den Anfangsjahren des Cochlea-Implantats skeptisch, ob der komplexe Prozess des Hörens mithilfe eines Cl gelingen kann. Schließlich war er überzeugt und sagte sinngemäß: Ich habe nicht bedacht, dass zwischen den Ohren noch das Gehirn liegt, das mit den elektrischen Reizen des Hörimplantats etwas anfangen kann und so dazu beiträgt, komplexe Wahrnehmungsprozesse besser zu verstehen.“
Yvonne Burges hatte nach der Operation das ehrgeizige Ziel, Musik wieder wie früher genießen zu können. Also hat sie geübt. „Die Fähigkeit von Musik, Emotionen auszudrücken, war mir immer sehr wichtig. Einer meiner Lieblingssongs ist ,Auld Lang Syne‘ in der Version von Mairi Campbell – sie hat eine ganz besondere, wunderbare Stimme. Als ich ihren Klang endlich wieder hören konnte, wusste ich: Jetzt habe ich es geschafft“, erzählt Yvonne Burges glücklich. Das Cochlea-Implantat war eine der besten Entscheidungen ihres Lebens, meint sie. „Frau Burges ist ein fantastisches Beispiel dafür, wie Patientinnen und Patienten durch ein Cl nicht nur ihr Hörvermögen zurückgewinnen, sondern auch Lebensfreude“, resümiert Prof. Dr. Stöver. „Die CI-Versorgung ist für alle Beteiligten, Patientinnen und Behandler, sehr befriedigend, weil man damit wirklich einen Unterschied in der Lebensqualität der betroffenen Menschen bewirken kann.“