Die Therapie von Dirk L.

Eine Organtransplantation ist eine Zäsur, die das Leben in „Davor“ und „Danach“ teilt. Genauso erging es dem Patienten Dirk L. Nach seiner Lebertransplantation erlebte er nicht nur einen fulminanten Gesundheitsschub, sondern noch dazu einige unerwartete Veränderungen. 

Aber der Reihe nach. 2010 fällt einem Gastroenterologen zufällig die leicht gelbliche Färbung der Augen von Dirk L. auf. Nach eingehenden Untersuchungen lautet die Diagnose: Primär sklerosierende Cholangitis (PSC), eine seltene autoimmune Lebererkrankung, die unbehandelt tödlich verlaufen kann. „Die Leber ist das größte Organ im Stoffwechsel und erfüllt zentrale Aufgaben bei der Entgiftung des Körpers, der Eiweißproduktion und der Verwertung der Nahrung. Bei der PSC sind die Gallengänge chronisch entzündet, was wiederkehrende Infektionen und Störungen des Galleflusses zufolge haben kann. Dies kann letztendlich zu einer Leberzirrhose führen“, erklärt PD Dr. Nina Weiler, Fachärztin für Viszeralchirurgie und Gastroenterologie an der Medizinischen Klinik 1 der Universitätsmedizin Frankfurt und Dirk L.s behandelnde Ärztin. PSC betrifft doppelt so häufig Männer wie Frauen, und die Ursachen sind bis heute nicht vollständig geklärt. Genetische Faktoren spielen vermutlich eine Rolle.

Hohe Dringlichkeit bei hohem MELD-Score
Trotz der Erkrankung lässt sich Dirk L. in seinem Job als IT-Administrator und bei seinen Freizeitaktivitäten lange nicht ausbremsen. Er geht weiterhin ins Fitnessstudio und fährt Motorrad, bis es physisch nicht mehr möglich ist. Ende 2022 verschlechtern sich seine Laborwerte und insbesondere der MELD-Wert drastisch. 

„Der MELD-Wert – MELD steht für Model for End-Stage Liver Disease – dient zur Einschätzung des Schweregrads einer Lebererkrankung und bestimmt, wer als nächstes ein Organ zugeteilt bekommt“, erklärt PD Dr. Weiler. „Der Score, der zwischen sechs und 40 liegt, setzt sich aus der Blutgerinnungszeit, dem Bilirubin-Wert – dem gelben Farbstoff im Blut – und dem Kreatinin-Wert zur Bestimmung der Nierenfunktion zusammen. Ein hoher Score bedeutet eine hohe Dringlichkeit – wie bei Dirk L., bei dem der Wert kurz vor der Transplantation bei 35 lag.“ Anders als bei Nierenspenden richtet sich die Vergabe von Lebern nicht nach der Wartezeit, sondern nach dem Schweregrad der Erkrankung. „Für die Nieren gibt es die Dialyse als Überbrückung. Die Leber erfüllt so viele Funktionen, dass es für sie bislang kein geeignetes Ersatzverfahren gibt. Daher ist hier der MELD-Score entscheidend“, ergänzt PD Dr. Weiler.

Zu wenig Spenderorgane
Trotz der Dringlichkeit gibt es oft nicht genug passende Organe. In Deutschland warten rund 8400 Menschen auf ein Spenderorgan, aber nur 965 Organspenden wurden 2023 durchgeführt. Nicht jede spendende Person kann jedes Organ spenden, deshalb wurden nur 766 Lebertransplantationen durchgeführt. Deshalb wirbt auch Dirk L. dafür, dass sich die Menschen für eine Organspende entscheiden. „Für mich war die Entscheidung schon lange vor meiner Erkrankung klar, dass ich einen Organspendeausweis ausfülle. Je mehr Menschen sich als Spenderin oder Spender ausweisen desto größer ist die Chance, selbst ein Organ zu bekommen, wenn man es braucht.“ 

Das Beispiel des 52-Jährigen ist nicht zuletzt dank seines überaus positiven Ergebnisses ermutigend. „Wenn ich morgens aufwache, greife ich als Erstes zu meiner neuen Leber“, sagt Dirk L. „Dann schaue ich zum Himmel und sage: Danke. Auch wenn ich auf dem Motorrad meinen Gedanken nachhänge, kann es passieren, dass ich eine Träne verdrücke, weil ich lange Zeit dachte, dass das nie wieder möglich wäre.“ Dabei denkt er auch oft an den Menschen, der ihm dieses zweite Leben ermöglicht hat, und er gesteht, dass ihm der Gedanke anfangs Panikattacken bereitet hat. „Da ist etwas in mir, das nicht mir gehört, wofür jemand gestorben ist“, sagt Dirk L. Eine Klinikseelsorgerin half ihm dabei, diese Krise zu überwinden. „Sie hat mir klargemacht, dass der Spender nicht WEGEN mir gestorben ist, sondern mir mit seinem Tod ein Geschenk hinterlassen hat.“ Dirk L. erhielt das Geschenk ausgerechnet am Valentinstag 2023. 

Transplantation als Energie-Booster
Seitdem beobachtet der aus Rodgau stammende Dirk L. bei sich unerwartete Veränderungen. „Früher habe ich Menschen oft in Schubladen gesteckt. Heute hinterfrage ich viel mehr, warum sie sich so verhalten. Als meine Haut aufgrund der Erkrankung gelblich gefärbt war, wechselten Passanten oft die Straßenseite, vermutlich weil sie dachten, ich sei Alkoholiker.“ Vorverurteilungen will Dirk L. in seinem Umfeld künftig vermeiden. Auch neue Interessen sind bei ihm erwacht, die er vor der Transplantation nicht für möglich gehalten hatte. „Pferde haben mich früher nie interessiert, aber jetzt will ich unbedingt Reiten lernen. Ein Tattoo kam für mich nie infrage, doch nach der Transplantation war es mir ein Bedürfnis, mir „Reborn 14.02.2023“ auf meinen rechten Bizeps stechen zu lassen – als Erinnerung an den Tag, an dem mein neues Leben begonnen hat.“

PD Dr. Weiler erklärt diese Veränderungen so: „Lebererkrankungen kommen häufig schleichend, so dass Betroffene die chronische Erschöpfung lange nicht wahrnehmen. Nach der Transplantation verspüren viele Patientinnen und Patienten eine ungekannte Energie. Sie merken plötzlich, wie sehr die Erkrankung sie vorher ausgebremst hat.“ Es wäre nicht ungewöhnlich, dass sich die „Neugeborenen“ mit dem Energie-Booster der Transplantation ermutigt fühlen, neue Perspektiven einzunehmen und alte zu überdenken. Die Summe dieser Erkenntnisse und Erlebnisse motiviert PD Dr. Weiler zu ihrer täglichen Arbeit: „Ich mache meine Arbeit insbesondere deshalb so gerne, weil die meisten Patientinnen und Patienten, nachdem sie todkrank zu uns gekommen sind, das Krankenhaus nach der Transplantation gesund verlassen und ein ganz normales Leben führen können.“ Dieses Fazit sollte alle Menschen dazu motivieren, sich als Spenderinnen und Spender zur Verfügung zu stellen oder sich zumindest grundlegend über Organspende zu informieren und entsprechende Wünsche in einem Spenderausweis festzuhalten.

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