Die Therapie von Karol Kulczynski

Die schnelle Reaktion von Mitbürgerinnen oder Angehörigen sowie eine zügige, zielgerichtete neurologische Therapie sind das A und O, um einen Schlaganfall ohne gravierende physische und kognitive Einschränkungen zu überstehen.

„Der Nachbar, der den Notruf gewählt hat, hat mir später erzählt, dass ich noch einmal ,Aua‘ geschrien habe, und das war’s“, berichtet Karol Kulczynski über jenen schicksalhaften Tag im August 2023. Der Dachdecker aus Seligenstadt ist gerade ins Auto eingestiegen, als er bemerkt, dass ihm sein rechter Fuß und die rechte Hand nicht mehr gehorchen. Er schafft es noch, den Pkw zu wenden und wieder abzustellen, bevor er mit einem „Aua“ aus der geöffneten Wagentür kippt. Dass er gerade einen schweren Schlaganfall erlitten hat, kommt dem 38-Jährigen zu diesem Zeitpunkt nicht in den Sinn. Ein Nachbar sieht ihn und wählt sofort die Notrufnummer 112.

Ein Glück für Karol Kulczynski, denn dann geht alles ganz schnell. Er wird vom Rettungsdienst in das Neurovaskuläre Zentrum der Klinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Frankfurt (UMF) gebracht. Bereits 14 Minuten nach dem Eintreffen erhält er ein Medikament gegen das Blutgerinnsel in seinem Gehirn. Mit Hilfe eines Kathetereingriffs durch die hiesige Neuroradiologie kann die Durchblutung der Hirnarterie nach weniger als 90 Minuten wiederhergestellt werden.

„,Time is brain‘ lautet das oberste Prinzip der Schlaganfalltherapie“, erklärt Prof. Dr. Christian Grefkes-Hermann, Direktor der Klinik für Neurologie an der Universitätsmedizin Frankfurt.

„Je zügiger die Patientinnen und Patienten in einer spezialisierten Klinik behandelt werden, desto besser ist das Outcome, und umso effektiver kann eine Behinderung bei den Betroffenen abgewendet werden. Dafür halten wir an der UMF rund um die Uhr entsprechendes Fachpersonal vor. Unsere Abläufe sind so durchstrukturiert, dass wir bei den jährlich hier behandelten 1.300 Schlaganfallpatientinnen und -patienten innerhalb von 20 Minuten eine Bildgebung des Kopfes, Ermittlung der Herz-Kreislauf-Werte sowie eine erste Untersuchung durchgeführt haben.“

Bei Karol Kulczynski wurde aufgrund eindeutiger Symptome eine sogenannte Thrombolyse und anschließend eine Thrombektomie durchgeführt. Von diesen modernen Therapien profitieren Betroffene, die vor zehn bis 15 Jahren noch schwerst behindert geblieben oder sogar verstorben wären. Bei der Thrombolyse werden Blutgerinnsel medikamentös aufgelöst. Der Wirkstoff sollte bis spätestens viereinhalb Stunden nach Symptombeginn verabreicht werden. Mit der mechanischen Thrombektomie, durchgeführt unter Einsatz radiologischer Bildgebung, wird das Gerinnsel per Katheter aus dem verstopften Gefäß herausgezogen. „Herr Kulczynski konnte von dieser Therapiekombination extrem profitieren. Er hat keine dauerhaften physischen oder kommunikativen Einschränkungen erlitten“, bestätigt Oberarzt PD Dr. Ferdinand Bohmann, der den Patienten direkt nach seiner Einlieferung in die neurologische Notaufnahme behandelt hat. „Als er bei uns in die Notaufnahme kam, hatte er die klassischen Schlaganfallsymptome: halbseitige Lähmung, hängender Mundwinkel, Sprachstörung. Ohne die unverzüglichen therapeutischen Maßnahmen wäre er heute vermutlich ein Pflegefall.“ 

Karol Kulczynski ist mit seinen 38 Jahren kein typischer Schlaganfallpatient. Von ca. 250.000 Menschen, die jährlich in Deutschland einen Schlaganfall erleiden, sind nur fünf bis zehn Prozent jünger als 50 Jahre. Im fortgeschrittenen Alter erhöhen Gefäßerkrankungen, -verkalkungen und Herzrhythmusstörungen das Schlaganfallrisiko. Rauchen, Drogenkonsum, Übergewicht und Bluthochdruck gelten zudem als Risikofaktoren. Bei jüngeren Betroffenen liegen die Ursachen häufig woanders. „Ein Grund mehr, nach dem Auslöser zu forschen“, sagt PD Dr. Bohmann. „Wir müssen genau hinschauen, um auch seltene Schlaganfallursachen, die in der Regel bei jungen Patientinnen und Patienten vorliegen, frühzeitig zu erkennen.“ Bei Karol Kulczynski wurde ein Loch im Herzen entdeckt. Das sogenannte Foramen ovale haben alle Menschen, aber bei den meisten verschließt es sich mit der Geburt. Bei Karol Kulczynski war das nicht der Fall. Ein Gerinnsel konnte so von dem rechten Herzvorhof in den linken übertreten und ins Gehirn wandern. Inzwischen wurde das Loch im Herzen durch einen Eingriff in der Kardiologie der UMF erfolgreich verschlossen. 

PD Dr. Bohmann betont noch einmal, wie wichtig schnelles Handeln bei einem Schlaganfall ist. „Es gibt nur wenige Erkrankungen, die im Rettungswesen die gleiche medizinische Dringlichkeit aufweisen wie der akute Schlaganfall“, resümiert PD Dr. Bohmann. „Es ist enorm wichtig, dass Außenstehende die Symptome erkennen und bei Verdacht auf Schlaganfall sofort die 112 rufen. Insofern hat der Nachbar von Herrn Kulczynski genau richtig reagiert. Jede Minute zählt, denn nach einem Schlaganfall sterben pro Minute ca. vier Millionen Hirnzellen ab. Sie können sich leicht ausrechnen, wie viele Hirnzellen verlorengehen, wenn der Rettungswagen aufgrund eines Staus zehn Minuten länger braucht.“ 

Der Zeitfaktor wurde auch in den neuen Räumlichkeiten der Universitätsmedizin Frankfurt berücksichtigt. Die neurologischen Abteilungen ziehen 2024 geschlossen in einen Neubau im Herzen der UMF. „Die räumliche Nähe der verschiedenen neurologischen Disziplinen – Neurologie, Neurochirurgie, Neuroradiologie – wird es uns erlauben, die Patientinnen und Patienten noch zügiger und effektiver zu behandeln“, sagt Prof. Dr. Grefkes-Hermann. „Dank modernster CT- und MRT-Ausstattung können wir im Erweiterungsbau außerdem eine noch bessere Diagnostik durchführen.“ 

Die Neubaustrukturen werden in Kombination mit modernen Therapieoptionen dazu beitragen, schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen durch den Schlaganfall weiter zu reduzieren. „Wir werden eine sogenannte Hirnstimulationsambulanz etablieren, um Patientinnen und Patienten zu unterstützen, die nach der akuten Behandlungsphase körperliche oder kommunikative Defizite zurückbehalten haben. Bei der Therapie werden gezielt Hirnregionen stimuliert, von denen wir wissen, dass sie förderlich für die Funktionserholung sind“, so Prof. Dr. Grefkes-Hermann. Eine weitere Chance auf ein Stück Normalität für alle Schlaganfallbetroffenen, die nicht so schnell Hilfe erhalten haben wie Karol Kulczynski. 

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